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Rede anlässlich der Eröffnung der Ausstellung „Urban Stark. Metamorphose“,
Eschweiler Kunstverein, 25.10.2015


Urban Stark: Metamorphose.
Wenn ein für seinen durchaus kritischen Blick auf gegenwärtige Verhältnisse bekannter Künstler eine Ausstellung seiner
Werke Metamorphose nennt, dann ist Vorsicht geboten!
Denn der Begriff, so elegant und zugleich wohlbekannt er in unser aller Ohren auch klingen mag, ist gar nicht so lieblich einfach gemeint, wie wir es gerne vermuten wollten. Bei Urban Stark nämlich kommen der Verwandlung (und nichts anderes heißt ja Metamorphose) sämtliche „märchenhafte Zutaten“ völlig abhanden, mit denen sie noch in Ovids berühmtem Werk verwoben war und die sie für uns so gut verdaulich kanonisierten.
Urban Stark nutzt den Begriff zeitkritisch; er sieht in den uns von ihm offenbarten Verwandlungen keine natur- oder gesetzesbedingten, gar literarischen Anpassungen der Dinge, sondern zuvorderst Resultate konsum- und erfolgsorientierter, mithin
wirklichkeitsverändernder Eingriffe in eine Ordnung, die einmal unser aller Alltag war, das Leben.
Und noch ein Wortspiel. Ingenious steht bei vielen Arbeiten im Titel. Es heißt so viel wie genial, erfinderisch, geistreich oder
auch klug; es kann auch mit kunstvoll oder, und das gefällt mir persönlich am allerbesten, mit raffiniert übersetzt werden. Ein
Wortspiel mit Tücken also. Denn je nach Intention kann ingenious entweder die praktisch sinnvolle Lösung oder ein hintersinniges vulgo überforderndes Verhalten meinen.
Es ist also Vorsicht geboten, meine Damen und Herren. Denn in dieser Ausstellung wird nichts einfach nur deshalb gezeigt,
weil es vielleicht sehenswert ist oder eine schöne Bilderfindung. Nichts von alledem hier ist nur so gemeint. Wenn schon in
den Begriffen, in Titeln und Überschriften, so viele Interpretationen versteckt sind, dass in einem auch das Gegenteil von einem
dem enthalten sein könnte, dann hat alles – muss alles einen entschiedeneren Grund haben …
*
Es wäre also zu einfach, Urban Stark zeigte schöne Fotos nur von einem Etwas, einem Stück Obst oder einem Insekt, einem
ausgelebten Haus oder einem Menschen, einem Schiff oder einer Struktur. Urban Stark verbindet die Dinge. Er setzt gigantisch
große Insekten über Obstbilder, er verwebt die Kontur von Menschen mit gebauten Formen, er löst Bilder von Booten in
Charakterfeldern auf.
Auf diese Weise entstehen Gleichzeitigkeiten. Mikrokosmos und Mesokosmos, die Welt des kleinsten Seins und unsere Welt,
Lebendigkeit und Hinterlassenschaft, Abbild und Struktur werden eins. Was eigentlich niemanden überraschen sollte, denn
sie sind es ja bereits, doch nehmen wir die Verwobenheit und Zeitgleichheit des Lebens selten so deutlich wahr. Wen kümmert
die Fliege, die ihn nicht ärgert? Urban Stark verdichtet nicht zusammengehörende Geschichte und Geschichten. Seine Arbeiten verweisen auf eine Wirklichkeit, in der das Große und das Kleine, der Mensch und die Dinge, Tatsachen und Fantasien
niemals getrennt voneinander existieren (können), sondern allenthalben miteinander verwoben sind, einander beeinflussen
und einander bedingen.
*
Viel zu einfach wäre es dann auch, in den aus Tetra-Verpackungen für Milch gefügten Assemblagen nur ein lustiges Spiel zu
sehen. Die darin eingewobenen Themen sind viel, sehr viel ernster.
Ein Beispiel. Wissenschaftler sehen heute unter anderem in der mangelnden Aktivierung unseres Immunsystems, sie sprechen
euphemistisch von einer Unterforderung, einen Grund dafür, dass die allergenen Erkrankungen in der Bevölkerung von Industriegesellschaften wie der unsrigen in den vergangenen Jahrzehnten stark zugenommen haben. Man nennt das auch die
„Dreck- und Urwaldhypothese“. Ich stelle nun eine – zugegeben gewagte – Frage: Wer von uns kann eine Kuh melken? Wir
werden die Frage gleich beantworten, lassen Sie uns noch für einen Augenblick bei der Kunst bleiben.
Selbstverständlich besitzen Urban Starks Objekte eine Bildsprache, die die Konflikte, solche wie eben angesprochen und
denkbar andere, nicht vordergründig inszeniert. Es ist zunächst ein satirisches Spiel der Ideen: Eine Kuh ist eine Kuh ist keine
Kuh, sondern ein Tetrapak. Dieses Spiel reizt der Künstler mit allen Mitteln aus. Eine Arbeit ist sogar aus Keramik, von Hand
aufgebaut und bemalt, was ganz nebenbei diesem wunderbaren und doch oft stiefmütterlich vernachlässigten Material zu
großer skulpturaler Ehre gereicht.
Indes es wären keine Arbeiten von Urban Stark, würden die Ideen sich darin erschöpfen, lediglich lustige, narrative, überzeichnende Bilder zu entwickeln. Und damit bin ich wieder bei meiner gewagten Frage: Wer von uns kann eine Kuh melken? Will
sagen: Wer von uns kann sich vorstellen, in einen Stall zu gehen, umschwirrt von Myriaden von Insekten, umfangen von allerlei
Gerüchen, und Hand anlegen an das Uber einer Kuh, um es mit Daumen und Zeigefinger so zu stimulieren , dass die Milch
einschießt und schließlich rhythmisch in wunderbar weiß perlenden Strahlen in den Eimer fließt? Wer könnte sich auf diese
Weise (noch) ernähren, sich und die Seinen am Leben erhalten? [Gar nicht erst danach gefragt: Wer von uns vertrüge diese
natürliche Milch heute eigentlich noch?]
*
Meine Damen und Herren, es sind solche Hintergründigkeit, solche Subtexte und manchmal unter vielen Schichten verborgenen existentiellen Fragen, die aus im Übrigen durchaus auch auf den ersten Blick bereits ansehnlichen Werken der Bildhauerei,
der Fotografie oder Objektkunst tatsächlich Werke von hoher Intelligenz, vor allem aber von gesellschaftlicher Relevanz werden lassen. Wollte die Kunst uns die Welt nämlich nur zeigen, wie sie ist und wir sie ohnehin erleben, wäre das zwar weitestgehend okay für unseren Alltag aber für unser Sein und unser Bewusstsein, für unsere Selbstreflexion und damit für ein aktives
Leben, nicht weiter wichtig; es wäre weder tragisch noch günstig, mit solcher Kunst zu leben. In dem Falle aber, da Kunst uns
wie hier nun einmal zum Überlegen bringt, sind wir die Beschenkten.
Insofern durchleben wir Betrachter in dieser Ausstellung mit Werken von Urban Stark gleichfalls eine Metamorphose. Denn
wer aufmerksam schaut und den vielen inhärenten Fragen nachgeht, verwandelt sich vom Kulturkonsumenten zum echten
Kulturkritiker – und Kritik ist, das wissen wir ja, „eine Grundfunktion der denkenden Vernunft“

Text © Stefan Skowron, Aachen, Oktober 2015

Vgl.: Einleitung, S. XXXIV, in: Ovid. Werke in zwei Bänden, Liselot Huchthausen (Hrsg.), Aufbau Verlag Berlin und Weimar 1982

Anne-Barb Hertkorn: Kritik und System. Vergleichende Untersuchungen zu Programm und Durchführung von Kants Konzeption der Philosophie als Wissenschaft. phronesis, München 2009, ISBN 978-3-00-019509-9, S. 32, (eingeschränkte Online-Version in der Google-Buchsuche-USA), zitiert nach:
https://de.wikipedia.org/wiki/Kritik [25.10.2015].